Und dazu noch ein Interview mit einem ehemaligen sowjetischen Flugabwehroffizier:
Wladimir Kaminer im Interview
"Ich hätte Mathias Rust abschießenmüssen"
In seinem Roman "Militärmusik" schildert Wladimir Kaminer seine Jugend in der Sowjetunion. Statt von Bananen träumte er von Schweinebraten.
Wladimir Kaminer, 34, gilt als Berlins berühmtester Russe. Der gebürtige Moskowiter absolvierte in seiner Heimatstadt eine Ausbildung zum Toningenieur und studierte anschließend Theaterdramaturgie. In Berlin, wo er seit 1990 lebt, schreibt er Zeitungskolumnen und ist mit "Waldimirs Welt" im Radio auf Sendung. Sein Erzählband "Russendisko" war im letzten Jahr ein Überraschungserfolg. Seinen ersten Roman "Militärmusik" (Goldmann Manhattan, 192 Seiten, 36 Mark) stellt Kaminer am Donnerstag um 19 Uhr im Kaffee Burger in Berlin-Mitte vor.
Sie sind im Sommer 1990 mit einem Besuchervisum von Moskau nach Berlin ausgereist. Was war Ihr erster Eindruck von der deutschen Hauptstadt?
Mein Freund Micha und ich sind an einem besonderen Tag in Berlin angekommen - am 11. Juli 1990. An dem Tag wurde Deutschland in Italien Fußball-Weltmeister. Ohne irgendwas davon zu wissen, sind wir in Lichtenberg aus dem Zug gestiegen und haben überall unglaublich fröhliche Gesichter gesehen. Die Menschen liefen betrunken über die Straße, aus jeder Kneipe schallte Musik. Die Wirte gossen uns Schnäpse ein, für die wir nichts bezahlen mussten. Und wir dachten: Mein Gott, wir haben das Paradies auf Erden betreten. Aber am nächsten Morgen haben die Leute nicht mehr gelacht, die Straßen waren grau.
In Ihrem gerade erschienenen Roman "Militärmusik" erzählen Sie von den Schwierigkeiten der Reisevorbereitung. Es war nahezu unmöglich, in Moskau Westgeld zu bekommen, aber ein befreundeter Schauspieler steckte Ihnen drei D-Mark zu.
Habe ich "Schauspieler" geschrieben?
Ja.
Das stimmt nicht. In Wirklichkeit war es mein Chef, ein ehemaliger Dirigent, der auf elektronische Musik versessen war und komplizierte Syntheziser entwickelte. Ich arbeitete damals als Musiktheater-Regisseur.
Wissen Sie noch, was Sie sich dann in Berlin mit diesen drei Mark gekauft haben?
Drei? Habe ich drei gesagt? In Wirklichkeit waren es zwei Mark, und von denen habe ich mir eine Flasche Bier gekauft, Flensburger, mit diesem merkwürdigen Bügelverschluss. Das hat mich fasziniert, weil ich so etwas aus Russland nicht kannte: eine Bierflasche, die man zwischendurch wieder verschließen kann.
Hat es geschmeckt?
Das weiß ich nicht mehr. Ich trinke seit sechs Jahren kein Bier mehr. Wie es riecht, weiß ich noch, aber ich habe keine Erinnerung an den Geschmack. Wie sind auseinandergegangen, Bier und ich.
Hatten Sie auch eine Wodka-Phase, wie es dem Klischee eines Russen entspricht?
Mit 16, im Säufer-Alter, wenn man die ersten alkoholischen Getränke entdeckt, waren wir zu arrogant, um uns mit der russischen Kultur abzugeben. Wir waren der Meinung, nicht die Kinder der Sowjetunion, sondern Englands zu sein. Wodka war ein volkstümliches Getränk, das die Vätergeneration benutzte, Billigschnaps: zwei Rubel, sechzig Kopeken. Deshalb besorgten wir uns Cognac, sobald wir Geld hatten, "Weißer Storch", ein moldawischer Cognac: zehn Rubel die Flasche. Wenn wir den tranken, fühlten wir uns wie innere Dissidenten.
Das klingt abenteuerlich.
Wir waren ständig auf der Flucht vor den Jugendabteilungen des KGB. Denn wir trugen lange Haare, und die Mitarbeiter des KGB hatten häufig Scheren dabei. Ein Freund verlor seine Haare, als er eines Tages aus der U-Bahn stieg und ein KGB-Mann sie ihm im Gehen, ohne ein Wort zu sagen, abschnitt. Einfach so. Das war damals eine echte Tragödie, mein Gott.
In "Militärmusik" schildern Sie Ihre Moskauer Jugend bis zur Ausreise nach Deutschland. Abgesehen vom "Wurstproblem, dem Zuckerproblem und dem Butterproblem" erscheint die Sowjetunion da als ein grotesker, aber gemütlicher Staat. Waren Sie gerne Sowjetbürger?
Klar. Die Probleme waren ja von innen betrachtet nicht zu sehen. Da es nichts zu konsumieren gab, hatten wir auch keinerlei Konsumwünsche. Es gab die Qual der Wahl nicht, die Jugendliche heute auch in Russland bewältigen müssen.
Haben Sie nie von Bananen geträumt?
Wenn man von Lebensmitteln träumt, muss man schon großen Hunger haben. In meiner Militärzeit habe ich mich nach saftigen Steaks und Schweinebraten gesehnt. Gebratenes Fleisch war aus gesundheitlichen Gründen verboten. Es gab nur Schmorfleisch und dazu ekligen Griesbrei.
Sie haben zwei Jahre in einer Raketenstellung vor Moskau gedient. Dabei mussten Sie mitunter zwölf Stunden lang auf einen Radarmonitor starren, auf dem sich nichts regte. War das die langweiligste Zeit Ihres Lebens?
Nein, im Gegenteil: Es war die spannendste. Da ich beim Dienst am Monitor allein war, konnte mich niemand zwingen, auf die Geräte zu achten. Und so las ich viel. Ich hatte eine 200-Milimeter-Schraube, die ich im Türschloss versteckte, um unerwarteten Besuch von Vorgesetzten zu vermeiden. Außerdem habe ich ständig gebastelt und zum Beispiel laufend Wasserkocher für meine Kameraden hergestellt. Die wurden mit der Zeit immer besser, immer kleiner. Heute könnte ich so eine Apparatur praktisch aus zwei Nägeln bauen.
Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass Mathias Rust einfach über Ihre Stellung hinwegfliegen und nach Moskau gelangen konnte.
Das war eine unangenehme Erfahrung. Rust war mit seinem Flugzeug schon vorher immer wieder auf unserem Monitor aufgetaucht und dann wieder verschwunden. Und plötzlich flog er über unsere Stellung, ich konnte den Schatten seines Flugzeuges sehen. Es wirkte, als würde ein Auto durch den Wald fahren, was ausgeschlossen war, weil überall Bäume standen. Ich rief meinen Offizier an, um ihm zu sagen, dass ich eben ein Auto über uns hinwegfliegen gesehen hatte. Jaja, wissen wir, hieß es. Seit diesem Tage verspüre ich eine schicksalhafte Verbindung mit Rust. Ich versuche zu verfolgen, was mit dem Mann passiert. Wussten Sie, dass er jüngst wieder angeklagt wurde, weil er für seine Braut in einem Hamburger Kaufhaus einen Kaschmir-Pullover geklaut hat? Dabei entstammt die Braut einer reichen Familie aus Indien, dem Land des Kaschmirs. Das kann man alles im Internet lesen, es gibt mittlerweile zahllose Mathias-Rust-Fanclubs, sogar in England und Russland, die seine Geschichte verfolgen.
Damals demonstrierte Rust mit seinem Moskauflug das vollständige Versagen der sowjetischen Militärtechnik. Eigentlich hätten Sie ihn abschießen müssen.
Eigentlich schon, ich habe versagt. Für die Raketenabteilung war das eine große Tragödie. Und es gab zahlreiche Offiziere, die sich deshalb umbrachten.
Nach Ihrer Militärzeit haben Sie sich als Parkwächter durchgeschlagen, einen Rindertransport nach Usbekistan begleitet und eine Ausbildung als Theaterdramaturg begonnen. Dabei ging es offenbar vor allem darum, einer geregelten Arbeit aus dem Weg zu gehen.
Wir lebten in einer Grauzone. "Schmarotzertum" war ein Vergehen, für das man eingesperrt werden konnte. Aber es war erst nachweisbar, wenn man sein Arbeitsbuch länger als vier Monate nirgendwo abgegeben hatte. Es musste lediglich bei einem Arbeitgeber registriert worden sein. Deshalb haben meine Freunde und ich ständig neue Pro-Forma-Jobs gesucht und uns als Bohemiens gefühlt. Unsere Arbeit bestand darin, Parties und Konzerte zu veranstalten. Schon mit 16 hatten wir viel mehr Geld in der Tasche als wir ausgeben konnten. Weil wir in kein Hotel hinein kamen, war das Einzige, was wir uns leisten konnten, ständig in Bewegung zu bleiben. Mit dem Zug bin ich durch die halbe Sowjetunion gependelt.
"Militärmusik" besteht aus vielen Anekdoten. Haben Sie keine Angst, damit ein System zu verharmlosen, das manches Leben zerstört hat?
Über dieselbe Geschichte kann man nicht zwei Mal weinen. Ein Onkel von mir ist für zwanzig Jahre verbannt worden, weil ihn seine Frau aus Eifersucht als angeblichen Spion beim KGB verpfiffen hatte. Er hat in Kasachstan als Ingenieur unter ständiger Militärbewachung arbeiten und in einem Erdloch hausen müssen. Später hat er trotzdem gesagt: Es war eine schöne Zeit. Klar war das eine schöne Zeit: Er hatte ja keine andere.
Weil Sie lieber lachen als weinen, erzählen Sie Ihr Leben als Schelmenroman?
"Militärmusik" ist kein richtiger Roman. Mir ist die Ehrlichkeit beim Geschichtenerzählen wichtig. Ich möchte dazu beitragen, dass die jüngste Vergangenheit, die man in Russland möglichst schnell vergessen möchte, in Erinnerung bleibt. Das ist kein hohe Literatur, sondern eine Art erzählter Rock'n'Roll.
Ein Talking Blues?
Ein Talking Blues, der bei aller Traurigkeit fröhlich klingt.
Das Gespräch führte Christian Schröder.