Der einzige Schuss
Präsident Putin will Russland wieder zu einer Luftfahrt-Großmacht machen - mit einem neuen Jet und mit Hilfe der westlichen Konzerne Boeing und EADS.
Allein der Name konnte Konkurrenten früher enormen Respekt einflößen. Im Zentralen Aerohydrodynamischen Institut (Zagi), gelegen am östlichen Stadtrand von Moskau, arbeiteten berühmte Konstrukteure wie Andrej Tupolew und Artjom Mikojan, einer der Väter jener MiG-Kampfflugzeuge, die noch heute zu den besten der Welt zählen.
Das Zagi war einst die Wiege zahlreicher Weltrekorde der sowjetischen Luftfahrtindustrie. 1926 startete das erste mehrmotorige Ganzmetall-Flugzeug. An Silvester 1968 hob die Tupolew Tu-144 ab, das erste Überschallverkehrsflugzeug - zwei Monate vor dem Jungfernflug der britischfranzösischen Concorde-Konkurrenz.
Doch nach dem Zerfall der Sowjetunion geriet der Passagierflugzeugbau in eine dramatische Krise. Die Aufträge aus den kommunistischen Bruderstaaten fielen plötzlich weg, Russland selbst stand kurz vor dem Bankrott. In ihren besten Zeiten hatten die Sowjets mehr als hundert Verkehrsflugzeuge pro Jahr gebaut, in den neunziger Jahren kam die Produktion beinahe komplett zum Erliegen.
Vergangenes Jahr wurden landesweit gerade noch acht Flugzeuge ausgeliefert. Airbus schafft das in einer Woche.
Der Asphalt auf dem schier endlosen Gelände des Zagi ist mittlerweile brüchig, auf einer der mehr als hundert Hallen verblasst langsam ein Lenin-Bild. Zwei Drittel der einst 15 000 Mitarbeiter mussten entlassen werden. Hochqualifizierte Ingenieure verdingten sich als Dachdecker. Und dennoch soll ausgerechnet hier nun die Wiedergeburt der russischen Zivilluftfahrt beginnen.
Präsident Wladimir Putin fordert, das Land wieder zu einer Luftfahrt-Großmacht zu machen. Der Favorit für seine Nachfolge, der für Militär- und Industriepolitik zuständige Vizepremier Sergej Iwanow, will bis zum Jahr 2024 zehn bis zwölf Prozent des Weltmarkts für Passagierflugzeuge erobern. Bisher liegt der russische Anteil bei weniger als einem Prozent.
Der Mann, der das Wunder vollbringen soll, heißt Wiktor Subbotin, 54, und ist Chef von den Graschdanskije Samoljoty Suchogo (GSS), dem zivilen Arm der Waffenschmiede Suchoi. Dreimal pro Woche lässt er sich von seinem Moskauer Büro zum Zagi fahren, jeden Sonntag versammelt er dort seine Topleute zur schonungslosen Bestandsaufnahme. Der Präsident, der Vizepremier, der Kreml, ja das ganze Land sitzen Subbotin im Nacken.
Denn es geht darum, ob die russische Flugzeugindustrie in Zukunft wieder mehr sein kann als bloßer Zulieferer für die westlichen Giganten Airbus und Boeing. Und darum, den verletzten Stolz einer ehemals großen Luftfahrtnation wiederherzustellen. Selbst Brasilien hat die Russen mit seinen Embraer-Flugzeugen überholt - und Brasilien ist ein Land, das man in Moskau allenfalls mit dem Export von Kaffee und Fußballspielern in Verbindung bringt.
Letztlich aber soll der Beweis erbracht werden, dass Putins neues Russland zu mehr imstande ist, als Öl und Gas zu liefern. Das riesige Reich will demonstrieren, dass seine wiederentdeckte Rolle als Supermacht nicht nur auf dem Atomarsenal und den Rohstoffvorkommen basiert, sondern schon bald auf einem dritten Pfeiler ruhen wird: seiner Wirtschaftsmacht.
Wiktor Subbotin und sein Abteilungsleiter Alexander Dschuba haben also viel vor. In der Mitte der Halle 12 hängt an Stahltrossen gerade jener Flieger, auf dem alle Hoffnungen ruhen. Der Superjet 100. Die Arbeiter testen zurzeit die Belastbarkeit der Flügel.
Drei Jahrzehnte hat Subbotin Kampfjets entworfen, lange am Reißbrett. "Ich bin ein sowjetisches Gewächs", lacht er. Im Jahr 2000 hat er angefangen, den Superjet SSJ-100 zu planen, diesmal allerdings ausschließlich am Computer. Seit drei Jahren leitet Subbotin die GSS. Inzwischen redet der ehemalige Kommunist und Planwirtschaftler wie ein Kapitalist von Märkten, Marken und Arbeitsteilung.
Die Triebwerke, wegen ihres hohen Verbrauchs zuvor ein Schwachpunkt des russischen Flugzeugbaus, lässt er heute gemeinsam mit der französischen Firma
Snecma Moteurs entwickeln. Die Lüftungsanlagen steuert die deutsche Liebherr Aerospace bei. Subbotin will nicht das beste russische Flugzeug bauen, sondern in Russland das weltbeste Flugzeug in der Klasse von 75 bis 95 Passagieren.
"Der Superjet ist unser erster Flieger, der nach den Wünschen der Kunden projektiert wurde. Wir haben die besten Zulieferer angestellt", erklärt er. So steht der Superjet auch für den Aufbruch Russlands in die globale Wirtschaft. Weg von der Autarkie, hin zum Weltmarkt.
Auf der Pariser Luftfahrtmesse verkündeten die Russen im Juni öffentlichkeitswirksam ein Gemeinschaftsunternehmen mit den italienischen Flugzeugspezialisten von Alenia Aeronautica. Sie sollen helfen, den Superjet international zu vermarkten und nach dem Verkauf für Wartung und die Lieferung der Ersatzteile zu sorgen, eine weitere Achillesferse der Russen.
Immerhin: Auf der Messe bestellte der italienische Regionalcarrier ItAli Airlines zehn Superjets für 283 Millionen Dollar. Es war die erste verbindliche Order aus dem Ausland.
Bisher stehen 71 Bestellungen und 44 Optionen in den Auftragsbüchern. Nach 300 Verkäufen sollen sich die Investitionen von 1,4 Milliarden Dollar rechnen. Schon auf der internationalen Flugschau Maks, die diese Woche unweit des Zagi-Geländes stattfindet, könnten weitere Deals verkündet werden. Die Verhandlungen mit Armenien etwa stehen vor dem Abschluss.
Bis 2024 wollen die GSS ihren Superjet mindestens 800-mal verkaufen, 300 davon allein in Russland, das rund 1000 Flugzeuge ersetzen muss. "Man hat Angst, es auszusprechen", beklagte Vizepremier Iwanow den Zustand der vaterländischen Luftflotte, " Langstreckenflieger sind im Schnitt 18 Jahre alt, Regionalflugzeuge 30."
Der Superjet soll den Kanadiern von Bombardier und dem Marktführer Embraer Konkurrenz machen. "Er wird weniger verbrauchen, ist gut zu warten und mit rund 28 Millionen Dollar zehn Prozent billiger als die westliche Konkurrenz", erklärt Subbotin.
Boeing ist dabei bislang kein Konkurrent, sondern vielmehr Berater der GSS. Weltweit haben die Flugzeugbauer aus Seattle einen Bedarf von 3500 Regionalfliegern ausgemacht. Im Büro von Abteilungschef Dschuba hängt sogar eine Dankesurkunde auf Kyrillisch: "Mit Dankbarkeit für Ihren Beitrag zur Entwicklung und zum künftigen Erfolg des Programms 787 Dreamliner. Die Konstrukteure von Boeing zu Weihnachten 2006."
Im Zagi, dem Herz der russischen Luftfahrtindustrie, werden Teile des Dreamliners getestet. Wenn es um Zukunftsmärkte und ums Geldverdienen geht, spielen die geopolitischen Streitigkeiten zwischen Moskau und Washington keine allzu große Rolle.
Bei der Rettung der russischen Zivilluftfahrt jedenfalls sind Putin und seinen Beratern die Ausländer hochwillkommen. Geschickt spielen sie dabei Boeing und Airbus, den eigentlichen Wunschpartner, gegeneinander aus.
"Auch Boeing hat ein Büro in Moskau", sagte Putin kürzlich bei einem Treffen mit internationalen Journalisten in Moskau. Unverkennbar ließ der Präsident seine Enttäuschung darüber durchblicken, dass Russland seinen fünfprozentigen Anteil an EADS, den es im vergangenen Jahr erworben hat, nicht erhöhen kann.
"Warum soll man sich vor uns fürchten? Wir kommen mit Investitionen, nicht um etwas wegzunehmen. Wir können helfen, Arbeitsplätze zu sichern", erklärte Putin, ehe er drohte: "Aber wenn die Europäer nicht wollen, suchen wir andere Partner."
So klingt das auch, wenn man mit Alexej Fjodorow, 55, zusammensitzt, quasi dem russischen Gegenpart von EADS-Chef Louis Gallois. Er lässt erahnen, dass die Europäer den Russen letztlich näher sind als die Amerikaner. Fjodorow, Vorstandschef der neugeformten Holding OAK und Boss von knapp 80 000 Mitarbeitern, zählt sorgsam auf, wo überall Russland schon mit Airbus zusammenarbeitet.
In Woronesch und Irkutsk fertigen die Russen Komponenten für den A320. Ein Joint Venture wird jährlich ab 2011 in Dresden und Sibirien rund 30 A320 Passagier- in Frachtmaschinen umbauen. Am neuen Langstreckenflieger A350, dem Sorgenkind von EADS, können sich die Russen mit fünf Prozent beteiligen.
Auch eine Erhöhung des russischen Anteils am Mutterkonzern EADS möchte Fjodorow nicht ausschließen. "Das müssen sie aber die deutschen und französischen Aktionäre fragen", zuckt er mit den Schultern. "Wir hören mal dies und mal das." Dann sagt er: "Aber wenn die Europäer uns haben wollen, werden wir schnell und positiv reagieren."
Fjodorow muss dabei Probleme lösen, gegen die sich jene von EADS wie Lappalien ausnehmen. Er muss in Windeseile und gegen Lobbyinteressen einen Konzern zusammenschweißen, der bald aus rund 20 früher eigenständigen Betrieben bestehen wird, darunter große Namen wie Suchoi, Iljuschin und Irkut.
Er muss die Produktivität seiner Arbeiter erhöhen, die im Gesamtkonzern bislang um 90 Prozent hinter den Amerikanern und Europäern herhinkt. Er muss die Chinesen abwehren, die selbst an einem Regionaljet basteln. Er muss zudem eine neue Generation von Wissenschaftlern fördern und zugleich die Vorurteile im Ausland überwinden, die etwa der inzwischen sanierten Linie Aeroflot den Spitznamen Aeroschrott eintrugen.
Der Superjet ist wohl der einzige Schuss, den die russische Zivilluftfahrt noch hat. Als Italiens Ministerpräsident Romano Prodi in Bari mit Putin über die Zusammenarbeit ihrer beider Airline-Industrien plauderte, sprach er nüchtern von "der letzten Chance unserer Länder, zu führenden Mitspielern auf dem Weltmarkt zu werden".
Superjet-Chef Wiktor Subbotin gibt sich siegessicher: "Wir haben lange genug geübt. Diesmal treffen wir ins Schwarze."
MATTHIAS SCHEPP
(c) SPIEGEL-Verlag, Hamburg
Quelle: "Der Spiegel" Nr. 34 vom 20.08.2007