Nachfolger für 737 und A320 gesucht
Die Boeing 737 und die A320-Familie von Airbus verkaufen sich nach wie vor ausgezeichnet. Die Arbeitsvorräte reichen bis ins Jahr 2008 beziehungsweise 2009. Anderseits stehen die Fluggesellschaften unter dem Zwang, angesichts der hohen Treibstoffpreise baldmöglichst Flugzeuge mit deutlich niedrigerem Verbrauch zu beschaffen.
Eigentlich war Gary Kelly aus einem anderen Grund nach Seattle gekommen. Der Chef von Southwest Airlines verkündete Pläne für den Bau eines Terminals am Boeing-Werkflughafen, an dem die Southwest-Jets künftig abgefertigt werden könnten, weil der benachbarte Flughafen von Seattle/Tacoma der Billigfluggesellschaft zu teuer geworden ist. Am Rande jedoch liess er noch eine Bemerkung fallen, die bei Boeing genau registriert worden sein dürfte. Es sei Zeit, sich über einen Nachfolger für die 737 Gedanken zu machen.
Noch immer volle Auftragsbücher
Kelly hat damit das ausgesprochen, was viele in der Branche denken. Auf mittlere Sicht werden sowohl Boeing als auch der europäische Konkurrent Airbus Nachfolgemodelle für ihre Bestseller 737 und A320 entwickeln müssen. Der Grund: Die Fluggesellschaften seien mit Energiepreisen konfrontiert, mit denen sie kein Geld mehr verdienen könnten, so Kelly. Der Sektor braucht, wenn schon die Kerosinpreise so hoch bleiben, so schnell wie möglich Flugzeuge, die deutlich weniger verbrauchen als die derzeitigen Modelle.
Weder Boeing noch Airbus verbreiten sich gerne öffentlich zu dem unliebsamen Thema, schliesslich verkaufen sich die 737 und der A320 noch gut; man will doch das Vertrauen der Kunden in die künftigen Restwerte nicht erschüttern. Zudem wäre der Schritt zumindest bei Boeing das Ende einer Epoche. Mehr als 5600 Einheiten des Typs 737 hat der Hersteller seit den sechziger Jahren verkauft, kein anderes Flugzeug war erfolgreicher. Auch der Auftragsbestand ist bei beiden gewaltig hoch. Würde Boeing ab heute keine einzige 737 mehr verkaufen, wäre die Produktion trotzdem bis Ende 2008 ausgelastet, bei Airbus reichen die Aufträge sogar bis 2009.
Dennoch lässt Boeing dem Vernehmen nach schon Ingenieurteams an Studien arbeiten. Das Projekt trägt offenbar den Codenamen Y1 und ist aus den Forschungen für den fast schallschnellen "Sonic Cruiser" entstanden, den Boeing angesichts hoher Kerosinpreise und sinkender Ticketerlöse wieder fallengelassen hat. Bei dem 737-Nachfolger sollen möglichst viele der Technologien angewendet werden, die das Unternehmen für den neuen Langstreckenjet 787 entwickelt: ein Rumpf ganz aus Faserverbundwerkstoffen, eine bessere aerodynamische Form, ein Cockpit auf dem neuesten Stand und eine sogenannte Fly-by-Wire-Steuerung, bei der die Steuerimpulse nicht mehr über Seilzüge, sondern, wie beim Airbus, elektrisch übermittelt werden.
Ein Projektteam arbeitet nach Informationen aus der Branche derzeit auch verschiedene mögliche Konfigurationen durch. Womöglich sieht das neue Flugzeug einst gar nicht so anders aus als die heutigen Jets. Vielleicht aber doch: Eines der Konzepte sieht einen besonders breiten und dafür kurzen Rumpf vor.
Boeing-Verkaufschef Scott Carson meint indes, es sei "ein grauenhafter Fehler", einen 737-Nachfolger ohne neue Triebwerke zu starten. Denn ob es gelingt, wesentlich wirtschaftlichere und leisere Flugzeuge zu bauen, haben Airbus und Boeing nicht alleine in der Hand, sie sind auf die Mithilfe der Triebwerkhersteller stark angewiesen. Mehr als die Hälfte der angestrebten Verbesserungen geht auf ihr Konto. "Wir haben den Druck beim Verbrauch und Lärm, es gibt die Umweltaspekte - eines Tages werden die 737 und der A320 nicht mehr gut genug sein", sagt Pierre Fabre, Chef des Triebwerk-Konsortiums CFM International. "Wir brauchen einen Durchbruch in der Technologie, also konzentrieren wir uns darauf, ihn zu schaffen." Sowohl CFM als auch die Konkurrenz von International Aero Engines (IAE) haben vorläufige Studien angekündigt. CFM und IAE rüsten bereits die 737 und den A320 aus. Die neuen Jets könnten um bis zu 20 Prozent effizienter sein als die Modelle, die sie ablösen - auch wenn solche Zahlen noch niemand bestätigen will.
Kaum vor 2012
Und es wird noch Jahre dauern, bis sie auf den Markt kommen könnten. Ein neues Triebwerk wäre, so glaubt Fabre, erst um 2012 einsatzbereit. Und Nico Buchholz, Chef-Flugzeugeinkäufer der Lufthansa, rechnet damit, dass das neue Modell eher um 2014 ausgeliefert werden wird. Für den Lufthansa-Manager ist das kein grosses Problem. Sein Arbeitgeber sei in der bequemen Lage, nicht unter Zeitdruck zu stehen. Der grösste Teil der Kontinentalflotte mit zwischen 100 und 200 Sitzen sei noch so jung, dass Lufthansa sie noch länger behalten kann. Bei anderen Fluggesellschaften drängt die Zeit mehr. Sie müssen entscheiden, ob sie jetzt noch einmal eine grosse 737- oder A320-Flotte beschaffen oder lieber noch eine Weile warten, dann aber ein wesentlich besseres Flugzeug bekommen.
Aus mehreren Gründen gehen Brancheninsider davon aus, dass Boeing und nicht Airbus den ersten Schritt machen wird. Der amerikanische Hersteller befindet sich am Anfang der - dringend nötigen - Rundumerneuerung seiner Produktpalette. Die 737 wurde in den sechziger Jahren entwickelt und ist damit in ihren ersten Versionen 20 Jahre älter als der A320. Zudem dürfte Airbus vorerst kaum die Ressourcen haben, sich um ein weiteres Entwicklungsprogramm zu kümmern. Der A380 befindet sich in den Flugtests, der Militärtransporter A400M in der Entwicklung, und Ende September will Airbus den neuen Langstreckenjet A350 offiziell starten. - Southwest-Chef Kelly dürfte das herzlich egal sein. Southwest setzt seit 34 Jahren nur die Boeing 737 ein - mittlerweile 436 Stück.
Jens Flottau
Quelle: NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, Druckausgabe vom 06. 11. 2005