]Fliegender Wahnsinn

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LOWA
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]Fliegender Wahnsinn

Post by LOWA » 16. Sep 2008, 12:47

Fliegender Wahnsinn

Es war ein letztes Aufbäumen sowjetischen Größenwahns: Am 21. Dezember 1988 stieg die Antonow 225 zu ihrem Jungfernflug in den frostigen Himmel über Kiew. Der fliegende Koloss mit sechs Turbinen, der ein Raumschiff auf dem Dach transportieren kann und voll beladen 600 Tonnen wiegt, ist bis heute das größte Flugzeug der Welt. Die An-225 "Mrija" - das ukrainische Wort für Traum - ist ein Beispiel, wie sich in der Sowjetunion wirtschaftlicher Wahnsinn mit technischer Genialität verknüpfte.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hielt der Wahnsinn zunächst an. Die Flugzeugbauer in Russland und der Ukraine steckten in den Neunzigerjahren noch viel Ehrgeiz in sowjet-typische Luftnummern wie die KR-860, gedacht als Konkurrenzmodell zum Airbus A380, mit 1000 Sitzplätzen und faltbarem Flügel. Erst langsam lernten sie, Flugzeuge zu entwerfen, denen Marktanalysen statt Technikträume zugrunde liegen.

Und auch die Politik hat reagiert. In Russland hat die Regierung inzwischen alle namhaften Hersteller des Landes zur Staatsholding OAK zwangsfusioniert. Ihr Auftrag: die Rückkehr der russischen Flugzeugindustrie auf den Weltmarkt. Dafür fließen bis 2025 rund 162 Milliarden Euro in die Entwicklung neuer Flugzeugtypen. OAK-Chef Alexej Fjodorow hat vor, Russland zur drittgrößten Flugzeugbau-Nation der Welt zu machen. Das würde allerdings einen erfolgreichen Großangriff auf die Platzhirsche Boeing und Airbus voraussetzen. Experten halten das für unrealistisch. Sie raten den postsowjetischen Flugzeugbauern, ihre Chance mit Transportflugzeugen und Regionaljets zu suchen - beides weniger hart umkämpfte Segmente mit guten Wachstumsaussichten.

Die Kampfjetschmiede Suchoi hat mit dem Regionalflieger Superjet 100 den ersten Schritt dazu getan. Mitte nächsten Jahres soll das erste Exemplar ausgeliefert werden, knapp 100 Bestellungen liegen vor. Bei der Konstruktion haben die Ingenieure so viel westliches Know-how wie nie zuvor berücksichtigt: Die französische SNECMA baut mit der russischen NPO Saturn die Triebwerke; Italiens Alenia Aeronautica wird die Maschinen später weltweit warten.

Suchoi-Chef Michail Pogosjan hat in den vergangenen Monaten Vertreter führender Fluggesellschaften durch sein Werk in Komsomolsk am Amur geführt, darunter auch Manager der Lufthansa. Sie sollten mit eigenen Augen sehen, dass heutige russische Flugzeuge internationalen Standards genügen. Bislang hat außer der italienischen "Itali" aber noch keine westliche Airline eine Bestellung abgegeben. Pogosjan hofft auf einen Sinneswandel. "Unser Flieger ist absolut konkurrenzfähig."

Technisch, so versichert er, seien die Maschinen etablierten Modellen wie den Embraer E-Jets oder Bombardiers E-Serie "absolut ebenbürtig". Hingegen böten sie deutlich mehr Platz und Komfort. Und der Preis sei mit 16 Millionen Euro unschlagbar günstig. Zum Vergleich: Der billigste E-Jet kostet laut Liste 19 Millionen Euro.

Suchoi steckt 900 Millionen Euro in das Projekt, das im Jahr 2013 die ersten Gewinne abwerfen soll. Von 2010 an will der Hersteller 70 Jets pro Jahr verkaufen und langfristig einen Marktanteil von 15 bis 17 Prozent erobern. Doch dieses Absatzziel lässt sich nur erreichen, wenn sich der Flieger auch im Westen verkauft. Im Heimatmarkt macht die Tupolew Tu-334, die weniger als elf Millionen Euro kostet, dem Superjet 100 Konkurrenz. Der billige Preis kommt zustande, weil Tupolew auf den Einbau kostspieliger Komponenten aus dem Westen weitgehend verzichtet.

Die Antonow-Werke in Kiew haben sich derweil auf den Bau von Fracht- und Militärmaschinen spezialisiert. Die Antonow An-70, die im kommenden Jahr in die Serienproduktion geht, war zeitweise als Militärtransporter der Bundeswehr im Gespräch. Aus industriepolitischen Gründen haben sich die Deutschen gegen den ukrainischen Frachter und für den Bau des Airbus-Transporters A400M entschieden.

Rund 100 Maschinen hat der Hersteller vorwiegend an das ukrainische Militär verkauft, Bestellungen aus Russland gelten als sicher. Der Geldregen garantiert das Überleben und ermöglicht neue Investitionen. Sogar die An-225 "Mrija"wurde wieder aus dem Hangar geholt, um sie für schwere Cargo-Flüge zu vermieten. "Mit den Frachtflügen verdienen wir das Geld für die Konstruktion und Fertigung neuer Flugzeugtypen", erläutert Konstantin Luschakow, Direktor der Cargo-Airline.

In der Nische der fliegenden Schwertransporter kann kein Konkurrent den Kiewern das Wasser reichen. Herzstück der Flotte ist die Basisversion An-124, auch "Ruslan" genannt. Der vierstrahlige Frachter kann 150 Tonnen laden - fast ein Drittel mehr als die Frachtversion der Boeing 747.

Die Charterflugzeuge der Antonow Airlines sind ständig ausgebucht. Der Markt für solche Schwertransporte wächst laut Luschakow jedes Jahr um 12 bis 14 Prozent. Aufträge werden nur mit einem Monat Vorlaufzeit angenommen. Für Militärtransporte im Nato-Auftrag hat Antonow Airlines zwei ihrer sieben "Ruslan" auf dem Flughafen Leipzig/Halle stationiert. Ist die Ladung besonders sperrig, schicken die Ukrainer ihre "Mrija" vorbei, mit der Lastwagen und Panzer der Bundeswehr nach Afghanistan geflogen werden. "Wir hätten genug Aufträge, um eine zweite Mrija auszulasten", sagt Luschakow. Doch der Bau würde rund 250 Millionen Dollar verschlingen. "Dieses Geld stecken wir lieber in die Entwicklung neuer Flugzeugtypen."

Denn technisch ist die "Mrija" völlig veraltet. Das Cockpit ist frei von digitaler Technik, die sechs Turbinen werden rein mechanisch gesteuert. Vier Ingenieure wachen während des Flugs über unzählige Knöpfe und Hebel, die die Schaltzentrale des Kolosses zum technischen Mysterium machen. Für die Piloten ist es ein Kraftakt, das 600-Tonnen-Flugzeug auf Kurs zu halten. Es sind durchtrainierte Kerle, die erst nach vierjähriger Spezialausbildung an den Steuerknüppel dürfen.

Deswegen wird weder die "Mrija" noch die "Ruslan" jemals in Serie produziert werden. Dagegen sind die Kaufmodelle überaus modern ausgestattet. In die Antonow-148, einen Regionaljet, haben die Ingenieure elektronische Steuerungstechnik eingebaut. Der Flieger bietet 75 Passagieren Platz, fliegt mit einer Tankfüllung bis zu 5000 Kilometer weit und liegt preislich und in der Ausstattung zwischen Tupolew und Suchoi. Bisher liegen rund 100 Bestellungen vor. Vorerst wären die Ukrainer zufrieden, im Kurzstreckensegment überhaupt eine Rolle zu spielen.

Die Russen verfolgen deutlich ambitioniertere Pläne. Der Suchoi Superjet ist nach Ansicht von Experten nur ein Testballon, um die Chancen eines sorgfältig konstruierten und mit westlicher Technik aufgewerteten Flugzeugs aus russischer Produktion auszuloten. Allerdings reicht der Verkauf von Regionaljets bei Weitem nicht aus, um zur Nummer drei auf dem Weltmarkt aufzusteigen. Dazu müsste die Flugzeugholding OAK den Marktführern Airbus und Boeing Anteile im Kurz-, Mittel- und Langstreckenbereich abjagen. Das weiß auch OAK-Chef Fjodorow - und arbeitet an einem entsprechenden Eroberungsplan.

Die Hauptrolle fällt dabei der Tochtergesellschaft Irkut vor. Sie entwirft gerade den Mittelstreckenflieger MS-21. Dieses "Flugzeug der Zukunft" soll bis zu 210 Fluggästen befördern, vermutlich wird es in Kooperation mit der chinesischen Luftfahrtindustrie zur Marktreife gebracht. Dank des massiven Einsatzes von Verbundwerkstoffen soll die MS-21 rund 15 Prozent weniger wiegen als das Airbus-Konkurrenzmodell A320. Auch Ideen für ein Langstreckenflugzeug liegen fix und fertig in den Schubladen. Insgesamt wollen die Russen bis 2025 einen Weltmarktanteil von 12 bis 15 Prozent bei Zivilflugzeugen erreichen.

Tom Captain, Direktor bei der Unternehmensberatung Deloitte Touche Tohmatsu im amerikanischen Seattle, hält das für viel zu hoch gegriffen. "Russland wird so schnell kein ernst zu nehmender internationaler Wettbewerber." Captain prognostiziert in den nächsten 20 Jahren einen weltweiten Bedarf an 28 600 neuen Flugzeugen, 8400 davon würden im asiatisch-pazifischen Raum und rund 1000 in den GUS-Ländern eingesetzt. "Die Chinesen kommen allein auf dem Heimatmarkt auf genügend große Stückzahlen, die Russen müssen dafür auf der ganzen Welt erfolgreich sein", analysiert der Experte. Und er nennt weitere Bedingungen für einen Erfolg. "Erst muss die OAK einen global funktionierenden Kunden- und Wartungsdienst aufbauen, ihre Strukturen transparent gestalten und zu weltweiten Qualitäts- und Sicherheitsstandards aufschließen."

Zumindest im eigenen Land will die Moskauer Regierung der MS-21 mit allen Mitteln zum Durchbruch verhelfen. Dafür schreckt sie nicht einmal davor zurück, die Konkurrenzmodelle von Airbus und Boeing mit hohen Importzöllen zu belegen. Das Vorgehen gefährdet zwar den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation WTO, doch das schert derzeit kaum jemanden. Wichtiger ist der Regierung der Wiederaufstieg zu einer Flugzeugbau-Weltmacht: Die staatliche Nachrichtenagentur kündigte dieser Tage an, die MS-21 werde "Airbus und Boeing verdrängen". Der sowjetische Größenwahn ist zurückgekehrt. n


Quelle: WirtschaftsWoche NR. 038 VOM 15.09.2008
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Re: ]Fliegender Wahnsinn

Post by TWA/VIE » 16. Sep 2008, 13:08

interessanter Bericht - danke
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