Die verrückte Geschichte von Flug 176

Was habt Ihr erlebt, wie ist es Euch ergangen?
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TWA/VIE
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Die verrückte Geschichte von Flug 176

Post by TWA/VIE » 21. Dec 2009, 20:54

Blizzard über New York. Nichts geht mehr. Doch die Airline sagt: Unser Flug schon. Was Marc Pitzke im Schneechaos an der US-Ostküste erlebt hat, ist der reine Reise-Horror. Eine Elf-Stunden-Geschichte von dreisten Versprechen, Verzweiflung an Bord - und einem waghalsigen Trip durch die eiskalte Hölle.

Es beginnt mit einer Vorahnung. Besser gesagt: mit dem Wetterbericht.

Ein Blizzard, der schlimmste seit Jahrzehnten, wälzt sich die US-Ostküste entlang auf uns zu. Virginia, Washington, Baltimore, Philadelphia - unaufhaltsam rückt das Schneemonster näher.

New York City soll es am schlimmsten zwischen 16 Uhr und 4 Uhr früh treffen.

Mein Flug, British Airways 176 von JFK nach London-Heathrow, soll um 19.40 Uhr starten.

Mein Freund Marco, zur gleichen Zeit mit Air France nach Paris gebucht, bekommt mittags einen Anruf von der Airline: Sein Flug sei annuliert. Marco bucht auf Sonntag um und macht dann Pläne, das Winterchaos gemütlich vom heimischen Fenster aus zu verfolgen.

Ich bekomme keinen Anruf.

Vorsichtshalber rufe ich British Airways an. Eine Computerstimme mit britischem Akzent informiert mich, dass die "geschätzte Wartezeit" für eine persönliche Auskunft 98 Minuten betrage, und schaltet mich auf beschauliche Zithermusik. Ein erstes Omen.

Bis zur letzten Minute online

Irgendwann hebt jemand ab. Ja, versichert die Kundendienst-Dame, BA- Flug 176 werde trotz des Sturms starten. Ich will dennoch umbuchen, sicher ist sicher. Nein, das dürfe ich erst, wenn der Flug offiziell annulliert sei, sonst würde ich mein Ticket verwirken. Ich zögere, da mich dieses Ticket inklusive Anschlussflug nach Düsseldorf 936,78 Dollar gekostet hat (Economy). So was gibt man ungern auf. Die Dame ermutigt mich: Ich könnte den Flugstatus ja bis zur letzten Minute online verfolgen.

Als da in der letzten Minute immer noch "planmäßig" steht, steige ich widerwillig ins Taxi. Es hat heftig angefangen zu schneien.

Am Airport herrscht längst Chaos. Tausende Passagiere sind dabei, das Weite zu suchen, weil ihre Flüge ausgefallen sind. Die Taxis, die sie wegbringen, werden wegen des Schneegestöbers nicht mehr zum Flughafen zurückkehren. Ich bitte meinen Fahrer, 15 Minuten zu warten, falls auch mein Flug noch gestrichen wird. Der Fahrer murrt. Er will nach Hause, denn im Fernsehen läuft Football. Er ruft seine Frau an und weist sie an, die Cannelloni warm zu stellen.

Das Fräulein am Eincheck-Schalter beteuert: "Ja, wir fliegen wirklich." Dann knöpft sie mir 60 Dollar Gebühr für meinen zweiten Koffer ab. Ich schicke den Taxifahrer heim zu Frau und Football. Draußen ist es stockfinster geworden. Der Schnee weht jetzt in Striemen quer. Die Terminals versinken im Nebel.

Stau an der Enteisungsstation

Um 19 Uhr gehen wir tatsächlich an Bord der Boeing 777. Meine Stimmung steigt. Der Jet ist neu, das Kabinenpersonal aufgekratzt. Der Kapitän macht uns Vorfreude aufs bessere Wetter in London. Wir docken vom Gate ab.

Und bleiben nach fünf Metern stehen.

Eine Stunde später teilt der Kapitän mit, es gebe einen Stau an der Enteisungsstation. Vor uns im Stau ist Lufthansa-Flug 411 nach München, planmäßige Abflugzeit 17.45 Uhr. Dort ist ein Bekannter an Bord. "Erster Enteisungsversuch gescheitert", schreibt er auf seiner Facebook-Seite, die ich auf meinem iPhone mitlese. So weit wären wir gern.

Nach einer weiteren Stunde meldet sich der Kapitän wieder: Es warteten "nur noch" drei Maschinen vor uns auf Enteisung, dann wären wir dran. Allerdings müsse der Enteisungstruck erst nachgetankt werden, danach würde es noch mal etwa eine Dreiviertelstunde dauern.

Draußen verschwindet das Rollfeld im Schnee. Auf unseren Tragflächen hat sich eine dicke weiße Eiskruste gebildet, die minütlich dicker und weißer wird. Die ersten Babys schreien laut.

Gestrandet in der Kabine

Nach drei Stunden rollen wir zum Gate zurück - aber aussteigen dürfen wir erstmal nicht. "Wir wissen Ihre Geduld zu schätzen", flötet der Kapitän, mehr Neues hat er nicht mitzuteilen. Die Tragflächen sind durchs Fenster nicht mehr erkennbar.

In der Maschine ist es inzwischen fußkalt. Im Klo ballt sich das Papier. Die Luft wird dicker, die Babys lassen sich kaum mehr beruhigen.

Eine halbe Stunde später meldet sich der Kapitän, diesmal mit "a little bit of bad news", "ein bisschen schlechten Nachrichten": Der Flug sei mit sofortiger Wirkung gestrichen worden. Leider sei das Bodenpersonal aber schon nach Hause gegangen. Wir dürften erst von Bord, wenn Ersatzleute eingetroffen sind.

Die Passagiere beginnen zu meutern. In der Kabine gibt es böse Wortwechsel. Der Kapitän spricht erneut. In scharfem Ton stellt er klar, wer an Bord das Sagen hat: seine Kabinencrew, nicht die Gäste.

Die Purserin beruhigt uns, verspricht umgehende Betreuung im Terminal. Man werde uns umbuchen und in Flughafenhotels unterbringen, weil die Autofahrt unmöglich geworden sei.

Der Blizzard hat seinen Höhepunkt erreicht. Mein iPhone vermeldet Windgeschwindigkeiten von bis zu 70 km/h, bei minus 30 Grad Celsius.

Nach insgesamt vier Stunden Ausharren in der Kabine beginnt die Crew, das Abendessen zu servieren. "Beef oder Nudeln?", zwitschert die Flugbegleiterin, gefolgt vom Kollegen mit der Kanne: "Wollen Sie dazu ein bisschen Tee?" Zum Beef gibt's Linsensalat und grüne Bohnen.

Keine Änderung mehr möglich

Ich versuche, online umzubuchen. Die Website von British Airways bedauert allerdings: Meine Buchung sei für Änderungen "unavailable", weil ich schon eingecheckt sei und die Maschine planmäßig um 19.40 Uhr starten werde.

Da ist es 22.30 Uhr.

Nach fünf Stunden werden wir endlich aus der Maschine entlassen. Womit nun der zweite Akt des Dramas beginnt.

Überall im Terminal liegen Hunderte gestrandete, erschöpfte Passagiere - am Boden, auf Bänken, in den schmutzigen Ecken des Food Courts, selbst in den Toilettenvorräumen. "Unser Bodenpersonal erwartet Sie an der Gepäckausgabe", sagt die Flugbegleiterin.

An der Gepäckausgabe stapeln sich unsere Koffer. Vom Bodenpersonal keine Spur. Mit einer Gruppe Mitreisender mache ich mich auf die Suche nach jemandem in Uniform. Wir stöbern einen einzigen British-Airways-Mitarbeiter auf. Im oberen Stockwerk, beim Check-in. Der Arme versucht, sich hinter seinem Computer zu verstecken.

Seine mitternächtliche Auskunft ist brutal: Der nächste BA-Flug nach London, der freie Plätze habe, gehe am Mittwoch. Auch die Hotels seien alle voll. "Machen Sie's sich gemütlich", sagt er und weist auf den Marmorboden.

Ich erkenne, dass ich mich jetzt aus dieser Lage befreien muss. Ich buche auf Mittwoch um. Ich ziehe meine zwei Koffer nach draußen vor die Tür, wo mir der eisige Blizzard ins Gesicht schlägt. Nach den stickigen Stunden an Bord fühlt sich das fast wie eine Wohltat an, eine Art Naturpeeling.

Am verwehten Taxistand gibt mir der Aufseher eine Nummer für die Warteliste: Etwa alle halbe Stunde kämpfe sich ein Wagen durch den Sturm, sagt er, gerade sei Nr. 2 abgefahren.

Ich habe Nr. 29.

Im Grüppchen versuchen wir es also beim Airtrain, der Hochbahn, die den Flughafen JFK mit der New Yorker U-Bahn verbindet. Wahrhaftig erscheint nach einer halben Stunde ein Zug. Wir steigen ein. Die Türen schließen sich nicht. Der Eiswind fegt durch den Wagen.

Eine Viertelstunde später schmeißt uns ein hämisch grinsender Jüngling wieder raus. "Dies war der letzte Zug. Er ist nun außer Betrieb."

Für 150 Dollar nach Manhattan

Zurück zum Terminal. In der Auffahrt irren versprengte Passagiere ziellos durch den Sturm, wie Ameisen, Koffer im Schlepptau.

Der Fahrer eines "gypsy cabs", eines illegalen Privattaxis, taucht auf, bietet Fahrten nach Manhattan, 150 Dollar pro Kopf. Ein zweiter verlangt 100 Dollar. Wir finden schließlich einen, der sich unserer für 75 Dollar erbarmt. Fast kommt es zur Schlägerei, als die Rivalen mitkriegen, wie er sie unterbietet.

Das "Taxi" ist ein alter Kleinbus, zwischen den Vordersitzen gluckst ein Benzinkanister, am Rückspiegel baumelt ein Rosenkranz, die Sitzgurte der Hinterbänke sind abmontiert. Der Fahrer schlittert über den vereisten, von Schneewehen umtürmten Long Island Expressway. Am Straßenrand sind zahllose Wagen liegengeblieben. Die Fahrer winken hilflos im Wind. Wir kommen an etlichen Unfällen vorbei. Unser eigenes Gefährt legt sich mehrfach quer.

Als mich der Fahrer schließlich vor meinem Haus in Manhattan absetzt, ist es 4 Uhr früh. Flughafen und zurück in elf Stunden.

Zwei Stunden später trifft Lufthansa-Flug 411, der vor uns an der JFK- Enteisungsstation gewartet hatte, mit meinem Bekannten in München ein. 248 Minuten Verspätung.

Aber immerhin.


Quelle: Spiegel.de, 21.12.09
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Re: Die verrückte Geschichte von Flug 176

Post by LOWA » 6. Jan 2010, 12:12

Bist Du deppert, kann ich da nur sagen. Das ist so spannend geschrieben, dass man glaubt, diese Sache selbst erlebt zu haben.
Glück ab, gut Land!

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Andyyy
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Re: Die verrückte Geschichte von Flug 176

Post by Andyyy » 15. Jun 2010, 10:12

Super Geschichte
Ich kann es nachwollziehen, obwohl ich bis jetzt nur 4 Stunden verspätung hatte.
Es war wo der Sturm über Österreich wütete und die Maschine keine Einfluggenehmigung für Österreich bekam...
Wer Rechtschreibfehler findet, der darf sie auch behalten :-)

Mädi
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Re: Die verrückte Geschichte von Flug 176

Post by Mädi » 16. Jun 2010, 18:58

Du hattest bis jetzt NUR 4 Stunden Verspätung. Da hast du wirklich Glück gehabt.

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