Szenen einer Notlandung

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TWA/VIE
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Szenen einer Notlandung

Post by TWA/VIE » 17. Feb 2010, 18:12

Szenen einer Notlandung:Ein Abend im Rettungsfloß

In speziellen Kursen lernen Ärzte, wie man zehn Kilometer über Grund ein Baby zur Welt bringt, einen Herzinfarkt behandelt und was zu tun ist, wenn man nach einer Notlandung im Wasser treibt. Ein Erfahrungsbericht christian böhmer

I. im künstlichen ozean. Wir treiben seit einer halben Stunde wie Korken im Wasser. Die Schwimmwesten halten uns an der Oberfläche, Jeans und T-Shirt ziehen nach unten. Wir haben reichlich Wasser geschluckt, manche frieren ein wenig, doch das Schlimmste kommt erst: das Klettern. "Alle ran an die Wand!", schreit Wolfgang. Mit "Wand" meint er die Außenseite des Rettungsfloßes, an der dünne Leinen gespannt sind. "Ihr müsst an den Life-Lines nach oben klettern. Wie an einer Leiter", brüllt Wolfgang. Der bullige Glatzkopf ist der Einzige, der in der gelben Rettungsinsel sitzt. Wolfgang schreit aus Prinzip. Er will, dass unser Stresspegel steigt; dass wir uns vorstellen, wir würden bei kräftigem Seegang neben einem Flugzeugwrack im kühlen Ozean schwimmen. Die Ersten beginnen zu klettern. Die mit Luft gefüllte Rettungsinsel schwankt, dreht sich. Als sich der erste "Schiffbrüchige" an der Seite hochzieht, gibt die Wand nach - und der Passagier fällt wie ein Käfer nach hinten ins Wasser. "Die Brust eng ans Floß, das Gewicht aus den Beinen nach oben stemmen! Schneller, schneller!", brüllt Wolfgang. "Es kann immer nur einer klettern." Genau das ist das Problem. Während ein beleibter Brillenträger zum dritten Mal vergeblich versucht, seinen schweren Körper ins Boot zu wuchten, müssen die anderen warten und zusehen. Und plötzlich sind sie da, die ersten unbotmäßigen Gedanken: Ob der Brillenträger bei einem echten Absturz wohl überleben würde? Ob ihn die anderen aufs Boot heben könnten? Und was ist das für ein Kurs, in dem man solche Gedanken wälzt?

II. im hörsaal. Das Trainingscenter der Austrian Airlines ist ein blauer Kubus am Rande des Flughafens Wien-Schwechat. Es ist ein verschneiter Winterabend. Vor den Fenstern ist es längst dunkel, in einem Hörsaal brennt noch Licht. Zwei Dutzend Zuhörer sitzen vor einer Flipchart, es sind Ärzte und Sanitäter, und was sie hier hören, lehrt keine medizinische Universität. Die Kursteilnehmer werden darauf vorbereitet, in einem Flugzeug ins Meer zu stürzen. "Ditching" (Notwassern) heißt der Kurs, organisiert hat ihn "Doc on Board", ein Zusammenschluss von Ärzten, Piloten und Mitarbeitern der Austrian Airlines, die zwei Leidenschaften verbinden: die Medizin und das Fliegen. "Statistisch gesehen, ist rund um die Uhr eine Million Menschen in der Luft unterwegs", erzählt David Gabriel, Geschäftsführer und Gründungsmitglied von "Doc on Board". Eine Million Menschen. Das ist vier Mal die Einwohnerzahl von Graz. In drei Viertel aller Jets sitzt zumindest ein Arzt unter den Passagieren. Doch obwohl bereits bei jedem fünften Flug der Erste-Hilfe-Kasten zumindest geöffnet wird, um eine Platzwunde oder andere Blessuren zu behandeln, mischen sich reisende Mediziner bei gesundheitlichen Komplikationen selten ein. "Es ist leider eine Tatsache, dass viele Ärzte Angst haben. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass gerade im anglo-amerikanischen Raum viele Kollegen rechtliche Konsequenzen fürchten, sollten sie in der Luft einen groben Fehler machen", sagt David Gabriel, der selbst Arzt und Pilot ist. Absurd klingt diese Angst nur für Nicht-Mediziner. Denn selbst für erfahrene Ärzte ist die Behandlung in einem Flugzeug, das in zehn Kilometern Höhe einen Ozean oder eine Wüste quert, bisweilen eine erhebliche Herausforderung: Die Platzverhältnisse sind völlig anders als in der gewohnten Ordination, spezifische Medikamente und einfachste Hilfsmittel wie Stethoskop oder Skalpell sind meist nicht zur Hand und im Unterschied zu vergleichsweise diskreten Spitalsambulanzen gilt es in Großraumjets auch dann Ruhe zu bewahren, wenn bei einer Wiederbelebung oder Geburt die halbe Economy-Klasse zusehen kann - oder muss. Seit mehr als fünf Jahren bietet das Team von "Doc on Board" Ärzten und Sanitätern die Möglichkeit, in einem authentischen Umfeld die Behandlung von Patienten in der Luft zu trainieren: Wie fühlt es sich an, wenn man zwischen scheppernden Wasser-Kochern und Wägelchen mit Diät-Menüs eine Herzdruck-Massage durchführt, während der Pilot die Maschine im steilen Sinkflug zum nächsten Flughafen steuert? Mit welchen Handgriffen kann man einen kollabierten Patienten aus einem Flugzeugsessel heben? Und was darf man als Behandelnder von den Stewardessen erwarten? All das haben mehr als 500 Teilnehmer in den letzten fünf Jahren trainiert. Ein halbes Dutzend von ihnen steht jetzt im Modell eines Flugzeugrumpfes und beobachtet Joachim Huber, den ärztlichen Leiter des Programms, bei der Herzdruckmassage. "Laut neuer ERC-Richtlinie ist die Anzahl der Kompressionen deutlich zu erhöhen. Das Verhältnis lautet nun 30 Kompressionen zu zwei Beatmungen", sagt Huber, ebenfalls ein Gründungsmitglied. Er kniet vor einem Mitarbeiter und erklärt, warum bei einem nicht-asphyktischen Kreislaufstillstand Thoraxkompressionen wichtiger sind als das Beatmen; und warum vor dem Einsatz von automatisierten Defibrillatoren zwei Minuten lang das Herz zu massieren ist. Das Verhalten in der Kabine, der Umgang mit Bord-Crew und Passagieren - all das gehört zum Standard-Repertoire der Kurse. In speziellen Modulen wird außerdem der Extremfall geübt: die Notwasserung.

III. in der kabine. Ehe in der Flugzeug-Kabine das Licht ausgeht, erklärt Notarzt Huber noch einmal die Sache mit den Schuhen. Die müssen bei der Notlandung nämlich verschwinden. Sicher, auf rutschigen Tragflächen oder scharfen Wrackteilen wäre man mit geschützten Füßen vielleicht besser unterwegs. "Aber soweit kommt es ja gar nicht", sagt Huber. Warum das? "Weil Schuhe den Passagieren beim Aufprall von den Füßen gerissen werden, durch die Kabine schießen - und im schlimmsten Fall jemanden erschlagen können." Deshalb: Schuhe in die Sitz-Taschen oder in die Stauräume. "Und was ist mit Brillen?", fragt ein junger Spitalsarzt. "Die stecken wir in die Socken", antwortet AUA-Trainer Wolfgang Kerndler. Er steht im Gang zwischen den Flugzeugsitzen und erklärt noch einmal, wie Kopf, Beine und Arme bei einer Notlandung gehalten werden müssen - und warum das Nach-Gurten notwendig ist. "Am Sessel zurückrutschen, Kreuz an die Lehne, Gurt über den Beckenknochen festzurren - sonst hat der Gurt ein Spiel und man kann sich bei der enormen Beschleunigung übel verletzen." Ein Augenblicke später wird es dunkel und das Kommando lautet: "Schwimmwesten anlegen!" Blind eine Schwimmweste anzulegen, ist fordernd genug. Bei anderen Kursen wird freilich noch Rauch in die Kabine geblasen - so wird's realistischer. Zumindest das spart sich der Trainer. Stattdessen macht er wieder das Licht an und hält einen kurzen Vortrag über den gelben Plastik-Sack, der vor ihm steht: das Rettungsfloß. Noch ist die Insel, in der 69 Menschen Platz finden, gut verpackt. Eine Stunde später wird der Riese im Becken eines Hallenbades treiben - und viele, die an ihm hochklettern, gnadenlos abwerfen.

IV. auf der rettungsinsel. Wir sind ein Haufen Elend: Vor ein paar Minuten war nicht einmal sicher, ob es jeder ins Boot schafft. Mittlerweile ist die Mannschaft zwar vollzählig, aber das Erfolgserlebnis währt nur kurz. "Wir müssen das Floß jetzt seetauglich machen", ruft Trainer Wolfgang in die Runde. "Im Ernstfall muss vieles delegiert und jeder mit einer klaren Aufgabe betraut werden!" Das bedeutet: "Der Mann in der blauen Jogginghose schnappt sich die Pumpe und füllt den aufblasbaren Mast; die Kollegin daneben nimmt den Schöpfer und versucht, das Wasser aus unserem Raft zu bekommen." Während die Sitznachbarin zur Linken ihren Finger in ein daumengroßes Loch stecken muss, damit das Boot nicht vorzeitig vollläuft, ist der luftgefüllte Mast endlich hoch genug, um die Plane aufzuspannen. Mit ihr wird es dunkler, deutlich wärmer und plötzlich sehr viel ungemütlicher. Von "draußen" peitscht Wasser an die Seitenwände - die Trainer haben die Bedingungen verschärft, sie simulieren leichten Seegang. Das ist der Punkt, an dem es einigen reicht; ein paar klettern aus dem Boot und retten sich an den Beckenrand. Als wären Nässe, Schaukeln und Enge nicht genug, hat Wolfgang für die im Raft Verbliebenen noch eine Geschicklichkeitsübung: Wir müssen uns von der triefenden Straßenkleidung befreien - aber ohne die Schwimmweste abzulegen. "Das Wichtigste ist in einer solchen Situation, dass ihr Wärme speichert, möglichst trocken bleibt, aber nie die Weste abnehmt. Spült es euch über Bord, ist sie eure Lebensversicherung", sagt er. Ausziehen, auswringen, anziehen. Klingt alles logisch und durchaus machbar, ist es aber nicht. Als alle "Schiffbrüchigen" das An- und Ausziehen bis zum bitteren Ende geübt haben und das Floß nach etwas mehr als einer Stunde im Wasser endlich am Beckenrand anlegt, sind die meisten geschafft. Während die Schwimmwesten eingesammelt werden, regen sich sanfte Zweifel: "Klappt das im Ernstfall? Wenn im beheizten Hallenbad pures Chaos herrscht, wie wäre das erst am Meer?" Das Team kennt den Einwand. Ist also alles umsonst? "Im Gegenteil", sagt Notarzt Huber. "Im Ernstfall warten 70 Prozent der Menschen nur auf Befehle und sie machen genau das, was ihnen ein Arzt oder eine Stewardess sagt. Wir wissen das von noch realistischeren Übungen im Eismeer - das ist übrigens beim nächsten Training geplant." Dann grinst er.




Quelle: "Kurier", 17.02.10
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