Stalins Himmelstürmerinnen
Frauen als Kampfpilotinnen? Da zögerte selbst Stalin. Dann gab der sowjetische Diktator doch sein Okay: Ab 1942 verbreiteten fliegende "Nachthexen" Angst und Schrecken unter deutschen Soldaten - heute sind ihre waghalsigen Einsätze weitgehend vergessen. Von Katja Iken
Plötzlich landete da dieses Flugzeug mitten auf dem Dorfplatz. Antonina Bondarewa, damals, im Sommer 1936, noch Siebtklässlerin, war Feuer und Flamme "Jungen und Mädchen, meistert das Flugzeug!", lautete die Weisung Stalins an die russische Jugend - und Tausende gingen für den Aufbau des Sozialismus in die Luft. Unter ihnen auch die junge Komsomolzin Antonina.
Nur fünf Jahre später überfielen Hitlers Truppen die Sowjetunion. Noch im gleichen Jahr, Ende 1941, fiel Antoninas Ehemann, ein Pilot, vor Moskau. Es war der Moment, als die Mutter einer dreijährigen Tochter Rache schwor und beschloss, selbst bis zum bitteren Ende gegen die Deutschen zu kämpfen - aus der Luft, wie ihr Mann.
Viele Frauen taten es Antonina gleich. Natalia, Katia, Tamara, Anna hießen diese oft kaum volljährigen Mädchen die sich im Zweiten Weltkrieg zum Dienst an der Waffe meldeten, um ihre Heimat gegen die deutschen Aggressoren zu verteidigen, insgesamt 800.000 bis eine Million Sowjetbürgerinnen. Und sie dienten keineswegs nur als Krankenschwestern oder Flakhelferinnen, sondern als Panzerfahrerinnen, Scharfschützinnen und Fallschirmjägerinnen. Oder als Kampfpilotinnen.
Eine Frau setzt sich gegen Stalin durch
Die Sowjetunion war die erste Nation, die es Frauen erlaubte, Kampfbomber zu fliegen, aus der Luft zu töten. Drei weibliche Fliegerregimenter gab es innerhalb der Sowjetarmee, am berühmtesten wurden die "Nachthexen" des 588. Fliegerregiments, die sich einen mörderischen Ruf erflogen. Sie schlugen zu, sobald die Dunkelheit hereinbrach, präzise, gnadenlos, aus dem Nichts kommend.
Einfach war es nicht, den obersten Kriegsherrn Josef Stalin davon zu überzeugen, auch Frauen in den Luftkampf zu schicken. Doch Marina Raskowa ließ nicht locker. Der passionierten Fliegerin war nach Kriegsausbruch der Eintritt in die sowjetischen Luftstreitkräfte zunächst verboten worden. Doch die 29-jährige Russin hatte sich nicht einfach abwimmeln lassen - und um mundtot gemacht zu werden, war die Pilotin einfach zu prominent.
Im September 1938 war Raskowa gemeinsam mit zwei weiteren Frauen einen Weltrekord von knapp 6000 Kilometern geflogen. Als der Sprit ausging, sprang Raskowa auf Geheiß ihrer Kommandantin über Sibirien mit dem Fallschirm ab. Anschließend kämpfte sie sich zehn Tage lang durch die Ödnis der Taiga, bis sie auf Menschen stieß. Es war eine Glanzleistung, für die Raskowa und ihre Crew mit dem Titel "Heldin der Sowjetunion" belohnt wurden - als erste Frauen in der Geschichte des Sowjetstaates überhaupt.
Wenn "Stalins Falken" zuschlagen
Angesichts des Vormarsches der Hitler-Truppen ließ der Diktator auch die weiblichen Reserven für den "Großen Vaterländischen Krieg" mobilisieren: Sein Befehl Nr. 0099 autorisierte Raskowa, drei, nur aus Frauen bestehende Fliegerregimenter auf die Beine zu stellen: das 586. Jagdfliegerregiment, das 587. Bomberregiment - und eben jenes vom Gegner bald besonders gefürchtete 588. Nachtbomberregiment, später umbenannt in 46. Garderegiment.
"Nachthexen", so tauften die Deutschen die fliegenden Frauen, die am liebsten nachts zuschlugen; in der sowjetischen Heimat hießen sie "Stalins Falken", denen ihre Gegner übernatürliche Fähigkeiten zusprachen: Chemische Substanzen habe man diesen Hexen gespritzt, damit sie auch in der pechschwarzen Nacht genau so gut sehen wie am helllichten Tag, lautete eine der zahlreichen Mythen rund um jene Fliegerinnen, die meist regelrecht über Nacht von normalen Frauen zu Kriegerinnen wurden.
Zöpfe ab, Männerunterhemden an - und los ging's: In gerade einmal sechs Monaten lernten die Fliegerinnen alles, was notwendig war, um den Feind aus der Luft zu treffen - und dabei möglichst nicht selbst abgeschossen zu werden. "Hitler hat hölzerne Soldaten, hölzerne Panzer, hölzerne Flugzeuge", hieß er zwar in einem der patriotischen Kriegslieder, "Stalin hat eiserne Soldaten, eiserne Panzer, eiserne Flugzeuge." Tatsächlich war es zumindest anfangs eher umgekehrt - die Maschinen der "Nachthexen", rund 30 Doppeldecker vom Typ Polikarkow Po-2, waren mit Stoff bespannte Sperrholzkonstruktionen.
Ein Haufen Mädchen mit "Nähmaschinen"
Das eigentlich zur Ausbildung und zu landwirtschaftlichen Zwecken gebaute, leichte und maximal 150 Kilometer pro Stunde schnelle Flugzeug taugte nur bedingt zum Bombenflugzeug; ein Sturm konnte es ebenso problemlos vom Himmel pusten wie ein feindliches Flakgeschütz. Doch die Langsamkeit hatte auch ihre Vorteile: Die deutschen Jäger mussten wegen ihrer hohen Grundgeschwindigkeit viel zu große Angriffskurven fliegen, um die wendigen kleinen Sowjetbomber ins Visier zu bekommen.
Als die wegen ihres surrenden Motors von den Deutschen "Nähmaschinen" getauften Po-2-Bomber der "Nachthexen" im Juni 1942 erstmals abhoben, lachten die männlichen Fliegerkameraden nur. Ein General, so wird berichtet, habe sich bitter über den "Mädchen-Haufen" beschwert, deren Stimmen so glockenhell waren, dass er sich fühlte wie im "Kindergarten". Doch das Lachen blieb den Herren Fliegern im Hals stecken: Gleich bei ihrem ersten Angriff am 8. Juni 1942 zerstörten die "Nachthexen" die Kommandostelle einer Wehrmachtsdivision.
Denn die Tod bringenden Fliegerinnen waren in der Schwärze der Nacht nicht nur unsichtbar, sondern auch nahezu lautlos: Tief über dem Boden glitten die leichten Po-2-Maschinen dahin, drosselten beim Anflug auf den Feind noch den Motor - und gaben erst wieder Gas, wenn sie ihre Bombenlast ausgeklinkt hatten. Wenn die deutschen Soldaten das Surren der "Nähmaschinen" hörten, war es schon zu spät. Wieder einmal hatten die "Nachthexen" zugeschlagen.
Frontmatratzen, Feldhuren, Rabenmütter
Der Psychoterror, den die "Nachthexen" so unter den Deutschen verbreiteten, war beträchtlich. Von den Pilotinnen verlangte diese Art von Einsatz aber ebenso erheblichen Durchhaltewillen: Ohne Fallschirm, ohne Funk und im offenem Cockpit flogen sie bis zu 18 Angriffe pro Nacht. Sie flogen selbst noch, wenn ihre männlichen Kameraden am Boden blieben, weil es ihnen zu nebelig, zu trübe, zu regnerisch war. Viele von ihnen hatten die stärkste denkbare Motivation überhaupt: Rache für ihre toten Männer zu nehmen - und es den lebenden Männern zu zeigen.
Ihre letzten Bomben warfen die "Nachthexen" im Frühjahr 1945 über deutschem Reichsgebiet ab - Danzig, Stettin, Köslin und der Hafen Swinemünde waren nun die Ziele. Nach dreieinhalb Jahren Kriegseinsatz mit 23.672 Einsätzen und mehr als 100.000 ausgeklinkten Bomben wurde das Regiment im November 1945, ein halbes Jahr nach der deutschen Kapitulation, aufgelöst. Nicht alle kamen auch durch: Mehr als ein halbes Hundert "Nachthexen" erlebten den ersehnten Sieg nicht mehr, sie wurden von den Deutschen abgeschossen und starben.
Und die Überlebenden sahen sich nun plötzlich unerwarteten Schmähungen ausgesetzt. Als "Frontmatratzen" und "Feldhuren" wurden sie nach dem Krieg in der Heimat beschimpft. Ihnen sei es weniger um die Verteidigung des Vaterlandes gegangen, als um die Jagd nach Männern. Nicht selten wurde den zurückkehrenden Soldatinnen die Rückgabe ihrer Kinder verweigert. "Ich sei eine Rabenmutter, weil ich das Kind im Stich gelassen hätte, um in den Krieg zu ziehen", erinnert sich Antonina Bondarewa, die bei den "Nachthexen" bis zum Gardeleutnant aufgestiegen war.
Mit Orden überhäuft - und vergessen
Der ersehnte Frieden brachte auch die Rückkehr eines eher traditionellen Frauenbildes, in dem wagemutige Pilotinnen, die sich am russischen Himmel Luftkämpfe mit Männern lieferten, keinen rechten Platz hatten. Kaum jemand wollte ihre Kriegsgeschichten hören, und die meisten blieben allein mit ihren Narben - den körperlichen wie den seelischen. Da half es nicht viel, dass der Staat sie mit Orden überhäufte: 23 "Nachthexen" wurden im Zweiten Weltkrieg mit dem Titel "Heldin der Sowjetunion" ausgezeichnet, das 46. Garderegiment war die am höchsten dekorierte Einheit der sowjetischen Luftwaffe.
Einmal im Jahr, am 2. Mai - jenem Tag, an dem das berühmte Foto eines jungen russischen Soldaten mit dem roten Banner auf dem Reichstag in Berlin entstand - versammeln sich die "Nachthexen" bis heute zum Wiedersehen. Vor dem Bolschoi-Theater in Moskau stehen dann die Waffenschwestern von einst, heute längst Großmütter und Urgroßmütter, und tauschen Erinnerungen aus. Würdige, alte Damen in Festtagsroben, mit rotgeschminkten Lippen und Falten im Gesicht, hochdekoriert - und dennoch vergessen von der Geschichte.
Quelle: spiegel-pnline, 19.11.09